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Weil ich nicht mein übliches Schweigen eintreten lassen
wollte, sagte ich: »Du hast uns in den Dienst gebracht, und ich
habe mich überzeugen lassen.«
Martin nahm die Hand von meinem Arm, und aus einem
irritierenden, unerklärlichen Grund bedauerte ich es.
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»Aber nicht von mir hast du dich überzeugen lassen.«
»Von wem denn sonst?«
»Von dir selbst.«
Ich schwieg wie unter einem Zwang.
»Nein«, sagte ich dann.
»Entschuldige!«, sagte Martin und wischte sich übers Gesicht.
Und für einen Moment musste ich wieder an meinen Vater
denken, an Bogdan, an den Mann am Müllcontainer.
»Manchmal denk ich so Zeug. Lass uns was trinken!«
»Du bist kein Mitläufer«, sagte ich.
»Okay«, sagte er und stemmte sich mit seinem schmächtigen
Körper gegen die Tür.
Ich legte die Hand auf seine Schulter. »Du bist niemals ein
Mitläufer gewesen.«
»Du hast Recht«, sagte er, wartete und hielt die Tür auf, bis
ich an ihm vorbei in den Vorraum getreten war. »Nur ein
Mittrinker.«
Erschüttert vom Ton und der maßlosen Traurigkeit seiner
Worte, drehte ich mich noch einmal zu Martin um und wäre
deshalb beinah über den Mann gestolpert, der vor dem Tresen
auf dem Boden kauerte und weinte.
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»Seid ihr jetzt glücklich?«, sagte Sissi.
»Nein«, sagte ich.
»Trink lieber noch ein Bier, Niko, lass den Schnaps weg!«
»Wodka«, keuchte Nikolaus Krapp mit gesenktem Kopf, die
Hände zwischen die Knie geklemmt, gebückt auf der Eckbank,
seinem Stammplatz.
Mit der Unterstützung der Wirtin, die Stühle aus dem Weg
räumte, hatten Martin und ich den angetrunkenen, vollkommen
übermüdeten Friseur vom Boden in die Höhe gestemmt, seine
Arme um unsere Schultern geschwungen und ihn vom Tresen
zum Tisch neben dem Fenster geschleppt. Dort ließ er sich auf
die mit einem karierten Polster ausgelegte Bank plumpsen und
starrte uns an, während Sissi die Bierdeckel ordnete, die er mit
dem Ellbogen über den Tisch gefegt hatte.
»Das sind Bullen«, sagte sie, als sie die Wodka- und
Biergläser brachte.
Hastig trank Niko den Schnaps und knallte das kleine Glas auf
den Holztisch. »Wir waren zusammen in der Schule, erzähl mir
nichts, Sissi! Bring mir noch einen!«
»Trink erst dein Bier, Niko!«
»Du hättst echt Krankenschwester bleiben sollen!« Er griff
nach seinem Glas und verfehlte es. Dann hob er es hoch, und
sein Arm zitterte. »Prost, Bullen! Lang nichts mehr von euch
gehört.« Schmatzend hielt er das Glas fest, stützte den Ellbogen
auf und drehte den Kopf zu Martin, der neben ihm saß. »Du bist
der Heuer.«
Martin nickte. Ich saß Niko gegenüber, und er brauchte eine
Weile, bis er seinen Blick auf mich eingestellt hatte. »Haben sie
jetzt eine Berühmtheit auf mich angesetzt?«
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Ich sagte: »Ich bin keine Berühmtheit, Niko.«
»Ich hab dich mindestens zehnmal in der Zeitung gesehen.
Bist du jetzt Chef von der Soko?«
»Nein«, sagte ich. »Ich bin nicht in der Soko, ich bin für den
Fall nicht zuständig, und Martin auch nicht. Wir sind privat
hier.«
»Wieso?« Niko stellte für einen Moment das Glas ab und
führte es anschließend, obwohl es fast leer war, mit zwanghafter
Behutsamkeit zum Mund, die Finger gespreizt, mit abstehendem
Arm.
An Sissi gewandt, die immer noch bei uns stand, sagte ich:
»Kennst du die beiden, die mit uns am Tresen gesessen haben?«
»Schauen seit einer Woche rein«, sagte Sissi. Seit Martin und
ich in ihre Kneipe zurückgekehrt waren, beachtete sie uns nur
notgedrungen. Dass wir uns im Gegensatz zu den übrigen
Gästen um Niko gekümmert und ihm geholfen hatten, aus seiner
Elendsstellung wieder auf die Beine zu kommen, rettete unser
Ansehen bei ihr nur geringfügig.
»Weißt du, was sie machen?«, sagte ich.
»Vertreter, glaub ich.«
»Was vertreten sie denn eine Woche lang am selben Ort?«
Sissi nahm Nikos Schnapsglas. Als sie sich über den Tisch
beugte, sah ich den Teil einer Tätowierung auf ihrer Schulter.
»Hättst sie halt gefragt, sie sind nette Gäste, ich freu mich,
wenn ich sie seh.«
»Haben sie zwischendurch mal telefoniert?«, sagte Martin. So
wie sie nebeneinander saßen, er und Niko, graugesichtig und
gekrümmt, mit trüben, trostlosen Augen, hätten sie
Weggefährten sein können, die jede Nacht Obdach bei Sissi
suchten und sich erst einmal für einige Minuten der Einkehr
und aus hämischer Gleichgültigkeit gegenüber dem Schmutz der
Welt auf den Boden legten, um das Schicksal des Ungeziefers
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zu beweinen.
»Na und?«, sagte Sissi. »Geht dich das was an?«
»Wahrscheinlich haben sie telefoniert, kurz bevor sie bezahlt
haben und gegangen sind«, sagte Martin.
Auf dem Weg zum Tresen drehte Sissi den Kopf halb nach
hinten. »Schlauer Bulle! Durchs Fenster spioniert?«
Nachdem er sein Glas ausgetrunken hatte, schälte Niko sich
aus der Windjacke, indem er mit den Armen schlenkerte und
dabei mehrmals Martin anstieß. Aber keiner der beiden sagte
etwas. Niko knüllte die Jacke zusammen und stopfte sie in die
Ecke, als nehme sie sonst zu viel Platz weg. Ungeduldig blickte
er zur Theke, hinter der Sissi Bier zapfte, und schaute dann mit
müdem, nervösem Blick durch mich hindurch, bis die Wirtin mit
dem frischen Glas kam.
»Wir nehmen auch noch zwei«, sagte Martin.
»Wo ist mein Wodka?«, sagte Niko.
Vielleicht traf ihn nun, da er sich in unserer Gesellschaft
befand, ebenfalls Sissis Bannstrahl. Sie nickte nur noch knapp
und verschwand wortlos.
»Prost und weg!«, sagte Niko, trank und knallte das Bierglas
auf den Tisch, lehnte den Oberkörper schräg nach hinten und
musterte Martin wie jemanden, der sich plötzlich neben ihn
gesetzt hatte. »Servus!«
»Servus«, sagte Martin sofort. »Ich heiß Martin.«
»Heuer«, sagte Niko. »Was machst du hier?«
»Besuch meine Eltern.«
Mit einem Ruck drehte Niko den Kopf zu mir. »Und du?
Besuchst du auch deine Eltern?«
»Ja«, sagte ich. »Meine Mutter wäre gestern siebzig geworden,
ich habe ihr Grab besucht.«
»Und der Papa?«, sagte Niko.
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»Der ist verschwunden.«
»Wie verschwunden?« Er trank, und etwas wie ein neugieriges
Staunen schwamm in seinen Augen.
»Er ist eines Tages weggegangen und nicht wiedergekommen.«
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